Um es gleich vorweg zu nehmen: Multichannel ist eine Technologie, Content First ist eine Strategie. Content First ist somit die Entscheidung, sich als Unternehmen in eine bestimmte Richtung zu entwickeln, während Mutichannel einen technologischen Ausbau darstellt, welcher kaum die ganze Firma betrifft.
Das ist Multichannel
Multichannel findet statt, wenn über klassische Systeme der für Print erstellte Inhalt auch in andere Kanäle ausgespielt wird. Die meisten Redaktionssysteme (so hat man diese Art Systeme im Print-Umfeld früher genannt) entwickeln sich weiter in Richtung Content First. Doch können sie ihre Herkunft meist nicht leugnen, die System-Architektur ist perfektioniert für Print (meist auf Basis Adobe InDesign), andere Ausgabekanäle wurden im Laufe der Zeit “angehängt”, um sie auch bedienen zu können.
Die “Denkweise” ist jedoch klar “Print first”. Diese Systeme sind unschlagbar effizient, wenn Print der wichtigste Ausgabekanal ist. Denn diese Systeme haben meist einen InDesign-Server integriert, welcher Print-Layout-Arbeiten serverseitig automatisiert. Und sie liefern eine verbindliche Print-Vorschau (Layout, Umbruch, Trennungen) im Browser. Wenn das wichtig ist, sind Klassiker wie WoodWing, K4 (und noch viele mehr) eine gute Wahl.

Das ist Content First
“Content First” heisst zu Deutsch “Inhalt zuerst”. Der Name ist Programm: Der Inhalt steht im Zentrum der Strategie, nicht ein präferierter Ausgabekanal. Inhalt wird so verwaltet, dass er möglichst effizient für alle heutigen und künftigen Ausgabekanäle verwendet werden kann.
Es geht um Inhalt, alles andere ist “Datenträger”
Bildschirm, Papier, Audio – alles Datenträger für Inhalt. Es gibt keine guten und bösen “Datenträger” – es gibt nur geeignete und nicht geeignete “Datenträger”, um den jeweiligen Zielmarkt zu erreichen. Es geht also nicht darum, den Print-Inhalt auch noch ins Web zu stellen. Es geht darum, den Kanal-unabhängigen Inhalt in geeignete Kanäle zu spielen.

Von der Ausgabe zu Continuous Publishing
In den letzten zwei Jahren durften wir einige Publisher (Verlage, Verwaltungen, Verbände) von “Print First” zu “Content First” umstellen. Dabei haben wir auch “das Denken in Ausgaben” hinterfragt und in den meisten Fällen abgeschafft. Denn: Warum warten mit der Veröffentlichung von Inhalt bis zur nächsten Ausgabe? Die “Ausgabe” als Publikations-Einheit ist nur in Print sinnvoll. Geht es kompromisslos um Inhalt, ist “die Ausgabe” als Einheit häufig ungeeignet. Wieso sollte auf die nächste Ausgabe gewartet werden, bevor ein Artikel online erscheint? Wird immerwährend publiziert, spricht man von “Continuous Publishing”.

Content First bedingt ein Umdenken

Als ich in den Neunzigern meine ersten Verlags-Erfahrungen gesammelt habe, war die Aufteilung der Arbeit völlig klar: Inhaltsproduzenten waren für den Inhalt zuständig, Layouter fürs Design. Das hat sich später geändert, weil in einer “Print only”-Welt die Inhaltsproduzenten mit den einfach zu bedienenden DTP-Tools auch gleich das Layout erstellen konnten.
Mit “Content First” kommt diese Trennung wieder: Inhalt und Aussehen werden getrennt. Es gibt die Inhaltsproduzenten, welche sich um den Inhalt kümmern. Es gibt Designer/Techies, welche sich um die optimale Präsentation des Inhalts im jeweiligen Ausgabekanal kümmern. Das geht nicht von heute auf morgen. Basis für den erfolgreichen Einstieg in “Content First” ist ein passendes Mindset der Inhaltsproduzenten. Sie müssen loslassen und das Aussehen des Inhalts wieder denen überlassen, die dafür verantwortlich sind. Nach einer Eingewöhnungszeit ist das sehr befreiend. Und setzt Ressourcen frei, Inhalt so zu erstellen, dass er in zusätzliche Ausgabekanäle geleitet werden kann: 5 tolle Bilder und ein Video gehören ab jetzt ebenso zum Inhalt wie der geschliffene Text.
Inhalt, wenn notwendig, in Varianten verwalten
Es ist völlig klar, dass Instagram und die gedruckte Zeitung nicht den gleichen Inhalt abbilden können. In der Zeitung ist Text gefragt, auf Instagram geht es um Bilder und Videos. Jetzt kommt der Trick: Unterschiedlicher Inhalt heisst nicht unterschiedlich Beiträge. Wer sein Content-First-System sauber aufbaut, verwaltet Inhalts-Varianten. Ein Beitrag hat die Variante “Instagram” und die Variante “gedruckte Zeitung”. Sowas geht zum Beispiel auch mit WordPress durch “eigene Felder”. Wir haben sogar eine Erweiterung erstellen lassen, die es ermöglicht, in WordPress mehrere Varianten eines Beitrages anzulegen. Grössere Content First Systeme (wie Xpublisher, SiteFusion… und auch klassische Redaktionssysteme) können sowas von Hause aus.
Fazit
Wer sich für Content First entscheidet, entscheidet sich, die Zukunft strategisch anders anzupacken: Nicht mehr in “A4-Seiten” und fixen Umbrüchen zu denken, Verantwortung für Inhalt und Aussehen wieder zu trennen.
Nur mit Content First kommt Ruhe in den Publishing-Alltag. Denn solange in Kanälen gedacht wird, gibt es Stress, weil immer ein neuer Kanal kommt und man sowieso immer auf den falschen gesetzt hat. Mit Content First ist der Inhalt so strukturiert, dass “auf der Klaviatur der geeigneten Ausgabekanäle gespielt werden kann”.
Doch vor der Technologie müssen Strategie, Psychologie und Mindset passen oder justiert werden. Denn, wenn jemand “nicht will”, ist die beste Technologie nichts wert.

6 Antworten
Ich finde das eine super Erklärung! Ein paar Gedanken dazu:
In der Praxis habe ich den Eindruck, dass Kunden häufig von Content First sprechen, wenn sie Online First meinen. Es wird also von Content-Erstellung für Print “umgedacht” in Content-Erstellung für Online. Ich finde es manchmal sehr schwierig, manchen Kunden zu erklären, warum das zu kurz gedacht ist.
Dieselbe Art Kunde ist auch nur schwer zu überzeugen, dass die Redakteure ab sofort kein Layout mehr machen – oder dass es jetzt für den Content kein Layout *gibt*, bis er im Kanal landet, und dass für dieses Layout jemand anders zuständig ist. Die Redakteure empfinden das in der Regel als Beschneidung ihrer Wichtigkeit und/oder als Unterstellung von Inkompetenz, und damit ist das auch ein hervorragendes Beispiel dafür, wie unglaublich wichtig die menschliche Komponente in Projekten ist.
Und drittens gilt in auch der Softwareentwicklung der unverrückbare Grundsatz, dass Inhalt und Präsentation niemals durchmischt werden. Alles andere schränkt in unglaublicher Weise die Handlungsmöglichkeiten ein und resultiert zwangsläufig in unwartbarem Spaghetticode. Für Content gilt dasselbe. Content, der nur gestaltet vorliegt (z.B. als InDesign oder PDF), ist nicht weiterverwendbar und muss erst wieder von seinem Layout befreit werden.
Dass Redakteure gestalten, war Kostendruck geschuldet, und hat eine Generation von Redakteuren hervorgebracht, die sich nicht mehr vorstellen können, dass ein Redakteur für Qualitätscontent zuständig ist, und *nur* für Qualitätscontent. Nun werden die Anforderungen durch die Anzahl der Kanäle für die Redakteure unbewältigbar, und wir haben dieselbe Unruhe, die wir hatten, als Redakteuren plötzlich abverlangt wurde, die Zeitung auch zu setzen, für die sie schreiben. Es ist schon was dran, dass Geschichte zyklisch verläuft.
Danke Thorsten, sehe ich genau gleich.
super artikel haeme! herzlichen dank fürs «augen öffen» 🙂
Lieber Marco, das freut mich sehr!
Für mich ist bei der Umsetzung von neuen Arbeitsweisen und Workflows immer super wichtig, die Leute mit ins Boot zu holen. Wie Du schreibst, ist die beste Technologie nichts wert, wenn die Anwender nicht wollen. Ein fehlendes Verständnis, dass zukünftig der ein oder andere Layout-Baustein (z. B. Preisbutton) evtl. technisch bedingt ein wenig anders aussehen wird, kann durchaus ein großer Stolperstein sein. Ist aber ein Verständnis vorhanden, dass es technisch Restriktionen gibt und das kleinere Layout Anpassungen in der Regel nicht gleich weniger Umsatz bringen, trägt maßgeblich zum Erfolg des Projektes bei. Das richtige Mindset aller Beteiligten, die richtige Strategie und das bedarfsgerechtere Software-Paket sind für mich die drei wichtigsten Bausteine.
Danke Johannes. Ja, der Mensch, der ist halt immer dabei 😉